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Kirsten Johnson hat beschlossen, das Sterben ihres an Alzheimer erkrankten Vaters in einem Dokumentarfilm festzuhalten. Will man so etwas überhaupt sehen? Ja, denn «Dick Johnson Is Dead» gehört zu den schönsten, originellsten, schrägsten und tiefsinnigsten Filmen, die in den letzten Jahren zum Thema Sterben gedreht wurden.
Wie ist es eigentlich, von einer Klimaanlage erschlagen zu werden, die einem aus grosser Höhe auf den Kopf fällt? Schwer zu sagen, denn vermutlich überlebt man so etwas nicht. Sie ist nur eine von vielen Todesarten (Autounfall, Treppensturz, Schlag ins Genick), auf die die Filmemacherin Kirsten Johnson ihren Vater sterben lässt – nur um ihn alsdann wieder zum Leben zu erwecken.
Warum? Sie will verstehen, wie der Tod funktioniert, wann und wie er zuschlägt. Denn dass er zuschlägt, ist bei Robert «Dick» Johnson nur noch eine Frage der Zeit. Er ist 86 Jahre alt und hat Alzheimer. Noch sind die Symptome schwach. Doch der erfahrene Psychiater und Witwer weiss um den fiesen Verlauf der Krankheit. Nichts wird seinen geistigen Zerfall stoppen können, auch nicht die Liebe seiner Tochter, seiner Freunde, seiner Kirchgemeinde.
Als sich Dick bei einer langjährigen Patientin nach dem Wohlbefinden ihres Gatten erkundigt, obwohl ihm diese vor einer halben Stunde weinend vom Hinschied desselben berichtet hat, willigt er ein, seine Praxis in Seattle zu schliessen und zu seiner Tochter nach New York zu ziehen. Ist das der Anfang vom Ende?
Für Kirsten Johnson war die Krankheit ihres Vaters ein grausames Déjà-vu. Vor zehn Jahren hatte sie ihre Mutter auf die gleiche Weise verloren. Es war ein langsames Verschwinden, «a long goodbye», am Ende erkannte die Mutter ihre eigenen Kinder nicht mehr. Die Filmemacherin wusste: So will sie nicht von ihrem Vater Abschied nehmen, diesmal muss alles ganz anders sein. Sie würde den Tod von Anfang an als Komplizen akzeptieren, sich ihm gleichzeitig mit grösstmöglicher Leichtigkeit entgegenstemmen, um ihn so seines Schreckens zu berauben.
Dann hatte Kirsten Johnson einen Traum: Sie sah den Vater aufrecht in einem Sarg sitzen. «Dick Johnson ist nicht tot», hörte sie ihn immerfort rufen. Das brachte sie auf die Idee, die verbleibende Zeit im Leben ihres Vaters mit der Kamera festzuhalten. «Ich schlug ihm vor, einen Film über sein Sterben zu drehen - und er sagte Ja.»
Jetzt ist «Dick Johnson Is Dead» auf Netflix gestartet. Und man fragt sich: Will man so etwas überhaupt sehen? Doch Tapferkeit wird belohnt. «Dick Johnson Is Dead» gehört zu den schönsten, originellsten, schrägsten, lustigsten, buntesten und tiefsinnigsten Dokumentarfilmen, die in den letzten Jahren zum Thema Sterben gedreht wurden.
Das liegt zum einen daran, dass Kirsten Johnson, die als Kamerafrau angefangen hat, eine originelle Regisseurin ist und sich mit Humor, visueller Poesie und Frechheit an den unausweichlichen Tod ihres Vaters heranwagte, zum andern aber auch daran, dass dieser mit bewundernswerter Hingabe, mit Ironie und Witz den Helden spielt, zu dem ihn seine Tochter erkoren hat. Von Selbstmitleid keine Spur.
Und je mehr sich über die Jahre die Realitätsebenen in Dicks Kopf verschieben, umso mehr arbeitet Kirsten Johnson mit traumartigen Einfällen: inszeniert das Begräbnis ihres Vaters, lässt ihn in einem Musical vor himmlischem Dekor von Engeln verwöhnen oder stellt in einem Tableau, das an die Kulisse eines Murnau-Films erinnert, die zunehmende Verwirrung ihres Vaters nach.
Dabei lotst Kirsten Johnson die Grenzen des moralisch und menschlich Vertretbaren mit feinem Gespür aus, ohne sie zu überschreiten. Stets bleibt sie respektvoll, empathisch, involviert den Vater, lässt ihn teilhaben, stellt wichtige Fragen, diskutiert mit ihm über das Drehbuch. An einer Stelle fragt dieser seine Tochter, warum sie statt dieses merkwürdigen Films über seinen Tod nicht Spielfilme drehe. Sie antwortet: «Das echte Leben ist oft faszinierender, als wenn man es erfinden würde.»
Und so ist «Dick Johnson Is Dead» nicht nur ein Film über das Sterben, sondern eine Feier des Lebens. «Mein Himmel ist auf Erden», sagt der gläubige Christ Dick – er ist Mitglied bei der Adventgemeinde –, nachdem er sich von der Filmcrew in einen Sarg betten liess, um seine eigene Abdankung nachzuempfinden. Doch das absurd Extrovertierte, mit dem Kirsten Johnson den Tod im Trailer zum Film so knallbunt verkauft, ist zum Glück nur ein Teil dieses einzigartigen Experiments.
Am schönsten sind noch immer die Momente der Demut und der Liebe. Wenn Dick und Kirsten nicht nur Pferde miteinander stehlen und dem Tod ein Schnippchen schlagen, sondern wenn sie in sich kehren, einknicken vor dem Zerfall, dem langen Abschied, dem unvermeidbaren Ende. Wenn die Tochter ihre Kamera immer mal wieder zur Seite legen muss und nur noch der Teppich zu sehen ist, weil ihr die Hände zu sehr zittern und es ihr vor Schmerz und Trauer die Sprache verschlägt.
«Richard Johnson Is Dead» ★★★★★ USA 2020, 90 Minuten. Regie: Kirsten Johnson. Mit Richard Johnson. Netflix.
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